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Gesellschaft im Wandel – wohin bewegen wir uns?

Dr. Marc Coester
1. Vorstand

In unserem letzten Jahresinfo endet die Einleitung, die im Januar 2020 verfasst wurde, mit einem Grönemeyer-Zitat: „Stillstand ist der Tod, geh‘ voran, bleibt alles anders“. Zu wörtlich hat 2020 diese Zeilen kurz darauf genommen. Seit „Corona“ ist nichts mehr, wie es war. Die Erde steht auf dem Kopf und schlittert in eine weltbewegende Umwälzung. Neben der Frage, wie sich die Welt verändern wird, interessiert uns insbesondere, wie der Mensch darauf reagieren und was dies für die Soziale Arbeit und die Kulturwerkstatt e.V. bedeuten wird.

Ende des 19. Jahrhunderts machte sich der französische Soziologe Émile Durkheim und unter den Eindrücken einer weltweiten Zerrüttung, der Industrialisierung, ähnliche Gedanken. Ganz kurz gefasst war eine seiner Aussagen: In Zeiten fundamentaler Umwälzungen in der Gesellschaft, brechen auch soziale Normen weg (hier entsteht der Begriff der Anomie, also der Normlosigkeit). Anomie bedingt eine Schwächung der bekannten Strukturen und Ordnungsprinzipien. Der Einzelne verliert seine Orientierung, der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt und soziale Regeln finden keine Beachtung mehr. Durkheim beobachtete damals, aufgrund dieser Entwicklungen, erhöhte Kriminalitätsraten in vielen europäischen Ländern. Der amerikanische Soziologe, Robert K. Merton, griff diese Gedanken in den 1930er Jahren und in Folge einer weiteren weltweiten Zäsur, der Weltwirtschaftskrise, auf. Er konkretisierte die Ideen von Durkheim und formulierte mehrere Reaktionsmuster, wie der Mensch in und nach Krisen mit dem Zustand der gefühlten Normlosigkeit umgeht. Die gute Nachricht dabei: Eine der Reaktionsformen ist, laut Merton, die Konformität, also die Anpassung an den sozialen Wandel. Die Rebellion, den Rückzug und abweichendes Verhalten nennt er allerdings ebenfalls in diesem Zusammenhang. Damit gemeint sind Terrorismus und Extremismus aber auch Polarisierung, Radikalisierung und die gesellschaftliche Spaltung.

Zurück ins Hier und Jetzt: Schon vor der Corona-Pandemie konnte ein langsames Erstarken des Rechtspopulismus, Extremismus und Terrorismus ausgemacht werden. Wir denken an Halle und Hanau, die Regierungskrise in Thüringen. Und an Gruppen, die sich Abschotten und Gewalt schüren, die in Sündenbock-Phantasien und Endzeitszenarien das Ende der Demokratie heraufbeschwören, die sich im Wald Lebensmittel- und Waffenlager anlegen oder sich in wirren Kaiserreichen auf deutschem Boden organisieren. Durkheim und Merton würden sagen: Aufpassen, denn jetzt und gerade nach der Krise kommt deren Zeit. Das Gemeinwesen ist physisch und psychisch geschwächt: Ordnungsprinzipien brechen weg, soziale Regeln verwässern, der Zusammenhalt bröckelt. Ein Einfallstor für Populisten und Extremisten von allen Seiten. Die Politik sollte sich schon jetzt dieser Herausforderung bewusst sein und alle Werkzeuge des demokratischen Rechtsstaates gegen solche Tendenzen bereitstellen und pflegen. Dazu gehört auch die Soziale Arbeit. Hier werden Menschen aufgefangen, begleitet, gestärkt, aufgeklärt, gebildet und unterstützt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt und Austausch werden gestärkt und gefördert. Gerade wenn die Krise die Schwächsten besonders hart trifft, braucht es ein starkes, soziales und konkretes Angebot auf kommunaler Ebene. Die Kulturwerkstatt e.V. ist sich dieser Verantwortung bewusst. Wir werden alles dafür tun, unseren Beitrag während und nach der Krise zu leisten. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konnten in den letzten Monaten spontan, kreativ und kompetent unser Angebot, welches eigentlich auf dem persönlichen Kontakt beruht, in den digitalen Raum verlagern ohne dabei die Kontaktebene abzubrechen. Schon jetzt zeichnen sich allerdings wenig erfreuliche wirtschaftliche Perspektiven ab. Wir hoffen daher auf ein deutliches Signal aus der kommunalen Verwaltung, damit das Angebot der Kulturwerkstatt e.V. für alle (jungen) Menschen in und um Reutlingen auch nach der Krise einen Beitrag für ein starkes, demokratisches Miteinander bieten kann. Besser heute als morgen. Wie hat es Bob Dylan besungen: “you better start swimmin‘ or you’ll sink like a stone, for the times they are a-changin”.