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Zu behindert für Freundschaft? – Inklusion im Kontext aktueller Bildungsdebatten.

Dr. Marc Coester 1. Vorstand
Prof. Dr. Marc Coester
1. Vorstand

2014 entbrannte eine deutschlandweite Diskussion über Inklusion im Bildungsbereich. Angestoßen durch den Fall „Henri“, einem aufgeweckten Jungen mit Down-Syndrom aus Walldorf, dem der Besuch in den örtlichen weiterführenden Schulen (Gymnasium und Realschule) untersagt wurde, sind die Gräben zwischen Inklusions-Gegnern und Befürwortern erneut sichtbar geworden. Inklusionspädagogik wendet sich gegen Exklusion und Segregation, also das Ausgrenzen von so genannten bildungsunfähigen Menschen aus dem herkömmlichen Bildungssystem. Inklusion meint dagegen das Einschließen aller Kinder in denselben Unterricht unabhängig z. B. einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Der Unterricht muss sich in diesem Modell den individuellen Bedürfnissen der Schüler anpassen – und nicht andersrum. Die Gegner einer Inklusionspädagogik sehen dabei zum einen die weiterführenden Schulen für die Bewältigung der Inklusion professionell und finanziell nicht vorbereitet. Zum anderen werden die Förderschulen als der geeignete und vorgesehene Ort in Deutschland betont, um (auch) Menschen mit Behinderung pädagogisch hochwertig, finanziell bestens ausgestattet und (im wahrsten Sinne des Wortes) exklusiv zu fördern. Letztendlich geht es auch um die Verteidigung der herkömmlichen Bildungsgrenzen: das deutsche Bildungssystem müsse den unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen der Schüler mit unterschiedlichen Schultypen begegnen. Begabte Schüler können dabei höhere Bildungsabschlüsse erzielen als weniger Begabte. Ein Mensch mit (zumindest geistiger) Behinderung in einem höheren Schultyp würde dieses Modell und damit den grundlegenden Sinn deutscher Schulbildung konterkarieren, so die Inklusionsgegner.

Befürworter des Inklusionsgedanken dagegen wollen zumindest eine Wahl haben, Menschen mit Behinderung insbesondere aus technischen, pädagogischen, sozialen und gruppendynamischen Gründen auf Regelschulen zu schicken, selbst wenn der dortige Schulabschluss letztendlich gar nicht erreichbar erscheint. In diesem Zusammenhang wird auf Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen, die Deutschland schon 2007 als einer der ersten Staaten Europas unterzeichnete und die 2009 hierzulande in Kraft getreten ist. Dort ist zu lesen: die Vertragsstaaten stellen sicher, „dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“ Ziel dabei ist es, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“ Im Grunde geht es den Befürwortern um das Großprojekt gesamtgesellschaftlicher Inklusion. Diese kann nur funktionieren, wenn alle Menschen tatsächlich und ganz praktisch miteinander in möglichst vielen Systemen (insbesondere auch im Bildungssystem) zu tun haben. Im Falle von Henri ginge es also nicht um das Erreichen seines Abiturs, sondern um das Miteinander von Kindern, die sich aus der Freundesclique in der Grundschule gemeinsam zu Jugendlichen und Erwachsenen entwickeln und hierbei lernen, dass Menschen zwar unterschiedlich sein können ihr Wert für die Gesellschaft aber derselbe ist. Diese Erfahrung ist für die zukünftigen Aufgaben in einer globalisierten, transnationalen und multikulturellen Welt quasi überlebenswichtig.